Das war meine Chance – Isabelle Rogge

03. Nov 2020 Team  DRA
Das war meine Chance – Isabelle Rogge

Fotocredit: Constanze Neubert




Isabelle, vor Kurzem hast Du auf dem YouTube-Kanal Leeroy will´s wissen! über "relative Armut" in Deiner Kindheit erzählt. Hast Du Dich als Kind selbst als „arm“ empfunden?                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Im Video wird meine Geschichte sehr bruchstückhaft erzählt. Die verschiedenen Stufen von Armut sind ja sehr fließend. Ich habe von meiner Geburt bis zum 11. Lebensjahr teilweise in relativer Armut gelebt, teilweise waren wir von dieser bedroht. Meine Eltern haben sich getrennt als ich drei Jahre alt war. Meine Mutter musste zunächst vier und dann als, meine Brüder aus dem Haus waren, zwei Kinder neben der Arbeit versorgen. Da mein Vater gestorben ist als ich 11 Jahre alt war und wir plötzlich Halbwaisen- und Erziehungsrente erhalten haben, hatten wir von da etwas an mehr Geld als zuvor. Wenngleich sich die strukturellen Probleme, wie bei vielen Arbeiter:innenkindern, bis in meine berufliche Laufbahn gezogen haben. Zur eigentlichen Frage: Nein. Wir hatten eine Wohnung, Essen, Kleidung und auch Spielsachen. Aber wir hatten eben kein Auto, konnten uns keine Urlaube leisten und sind nicht ohne besonderen Anlass in ein Restaurant Essen gegangen. Als kleines Kind habe ich das vermutlich für den Normalzustand gehalten. Den Kindern aus der Nachbarschaft ging es ja ähnlich. Wenn meine Mutter mir versucht hat zu erklären, dass wir für etwas kein Geld hatten, soll ich gesagt haben: „Dann geh doch zur Sparkasse.” Dass Menschen in unterschiedliche Situation hineingeboren werden und nicht unendlich viel Geld aus dem Geldautomaten strömt, habe ich erst später begriffen. Heute weiß ich auch, dass meine Mutter auf vieles verzichtet und unglaublich viel geschultert hat, um uns Teilhabe am sozialen Leben mit unseren Freund:innen zu ermöglichen. Ich erinnere mich rückblickend nicht an das Gefühl arm zu sein, sondern vor allem an eine sehr schöne und liebevolle Kindheit.

War Armut also „nur“ finanziell oder auch sozial für Dich spürbar?                                                                                                                                                                                  Zu großen Teilen finanziell, da ich in meinem Freundeskreis immer voll dazu gehörte und die finanziellen Verhältnisse in unserer Freundschaft zum Glück keine Rolle spielten. Es gab aber Aktivitäten, die wir uns nicht leisten konnten. Ich wäre in der Grundschule sehr gerne in die Musikschule gegangen oder zum Tanzunterricht wie meine Freundinnen. Außerdem kann ich mich bis heute an einen Moment in der 5. Klasse erinnern. Ich war frisch auf dem Gymnasium und musste mit einem kleinen DIN A5 Heft nach der Stunde zur Klassenlehrerin. Meine Mutter und sie tauschten sich darin darüber aus, ob der Förderverein die Kosten für die Fahrt ins Landschulheim übernehmen konnte. Ich war die einzige in der neuen Klasse, die mit dem Heftchen da vorne stand. Da habe ich gemerkt, dass wir offensichtlich ärmer sind als die anderen. Als wir dann später mehr Geld hatten und ich in die Tanzschule konnte hat das für mich viel verändert. Auch sozial. Wir haben als Tanzgruppe gemeinsam trainiert, sind aufgetreten und auf Wettbewerbe gefahren. Irgendwann habe ich sogar in der Tanzschule gearbeitet und Kurse für Kinder und Jugendliche gegeben und wenn auch wenig, mein erstes Geld verdient. Das hat mir viel Struktur, Zusammenhalt und Ehrgeiz gegeben.

Deine Eltern sind keine Akademiker, dennoch haben Deine Geschwister und du studiert. Konnten Dich Deine Eltern bzw. Deine Mutter unterstützen?                              Meine Mutter ist für mich zunächst unterbewusst ein großes Vorbild gewesen. Heute sehe ich das ganz deutlich. Sie hat mit 40 Jahren Fahrrad fahren gelernt, um uns Kinder zur Schule und in den Kindergarten bringen zu können, hat immer gearbeitet und den Haushalt fast komplett alleine geschmissen. Sie wollte, dass wir Zeit zum Lernen haben, da sie uns auf dem Gymnasium nicht mehr beim Schulstoff helfen konnte. Vor allem hat sie mir vorgelebt, wie wichtig es ist, als Frau unabhängig für sich sorgen zu können. Da ich in meiner Familie das Nesthäkchen bin, hatte ich außerdem das Glück, in der Schulzeit auch mal meine Geschwister um Rat fragen zu können. Im Studium war ich finanziell und organisatorisch auf mich allein gestellt. Ich habe mich mit 24 vergleichsweise spät für das Studium entschieden. Zuvor habe in eine Bankausbildung gemacht und noch 1 ½ Jahre dort in der Immobilienfinanzierung gearbeitet und konnte etwas Geld ansparen. Ohne dieses Sicherheitsnetz für die ersten Studienmonate bis das Bafög kam, hätte ich vermutlich auch nur schwer durchgehalten, da ich in meinem ersten Praktikum beim Radio nicht bezahlt wurde.

Gab es noch andere Menschen, die Dir in Deinem bisherigen Leben besonders weitergeholfen und/oder besonders an Dich geglaubt hat? Dir vielleicht diese eine große Chance gegeben haben?                                                                                                                                                                                                                                                      Darauf würde ich jetzt sehr gern mit ja antworten, aber so richtig habe ich das leider nicht erlebt. Ich hätte mir so sehr jemanden gewünscht, der mein Potential früh erkennt. Ich habe teilweise leider sogar das Gegenteil erlebt. Ich habe zum Beispiel mal in einer Redaktion mehr inhaltlich arbeiten wollen, um eigene Konzepte umzusetzen. Daraufhin wurde mir entgegnet, dass Praktikanten das ja viel günstiger machen können als ich. Damals wusste ich noch nicht um meinen Wert und habe nicht weiter nachgehakt. Überhaupt habe ich am Anfang nicht verstanden wie viel Geld meine Arbeit wert ist, da ich aus einer Familie komme, in der wir immer mit sehr wenig Geld ausgekommen sind. Am Ende habe ich einfach sehr viel und hart gearbeitet. Ich glaube Arbeiter:innenkinder wie ich arbeiten allein aus Existenzangst oft härter als andere. Dieses Durchhaltevermögen ist eine Kompetenz, die auf dem Arbeitsmarkt unterschätzt wird. 

Hast du in Deiner Schulzeit soziale Ausgrenzung unter Kindern bewusst erlebt? Bei Dir selbst oder bei anderen?                                                                                            Nein. Ich hatte von der ersten bis zur 13. Klasse einen sehr intakten und stabilen Freundeskreis, in dem es nur selten Probleme gab.

Wusstest Du nach Deiner Schulzeit, genau was Du beruflich tun möchtest? Bzw. wie hast Du herausgefunden, was genau Du willst/was nicht?                                    Ich habe als Kind schon sehr früh zu lesen begonnen und mir auch gerne Geschichten ausgedacht und aufgeschrieben. Geschichten wie die vom Sams haben mich begeistert und so wollte ich als Kind gerne Schriftstellerin werden. Aber ich hätte nicht gedacht, dass ich einen solchen Beruf jemals selbst ausüben könnte. Ich kannte wirklich niemanden, der kreativ und künstlerisch tätig war. Und so verflog der Berufswunsch. Nach dem Abitur habe ich mich dann nicht getraut direkt zu studieren. Ich wollte gerne Germanistik und Philosophie studieren, aber wollte keine Schulden aufbauen und wusste nicht wirklich, was ich mit der Fächerkombination machen sollte. Lehrerin wollte ich nicht werden. So habe ich dann erstmal erstmal auf die sichere Ausbildung gesetzt und bereue die Entscheidung im Nachhinein auch nicht. Ich habe sehr viel über den Umgang mit Geld gelernt, kann heute auch im kreativen Bereich mit Budgets umgehen und meine Arbeit sehr gut strukturieren. Aber ich habe definitiv viele Umwege genommen, die nicht unbedingt notwendig gewesen wären. Am Ende war es die Erkenntnis, trotz eines sicheren Jobs in einem eigenen Büro, unglücklich zu sein, die mich dazu gebracht alles zu überdenken. 2012 war ich häufiger bei Freunden in Berlin zu Besuch und habe an einem kostenlosen Radioworkshop teilgenommen, der mir so viel Spaß gemacht hat, dass ich dachte: Jetzt muss ich es wagen. In der Woche darauf habe ich meine Kündigung eingereicht und angefangen meinen Umzug nach Berlin zu planen.

Wie hat sich der Umgang unter Kindern/Jugendlichen inzwischen geändert? Welche Rolle spielt dabei Social Media? Nur eine negative oder auch eine positive? Ich denke unter Kindern und Jugendlichen gibt es heute größeren sozialen Druck als früher, weil man in Instagramstories ständig sieht, was die anderen erleben und besitzen. Ich habe als Kind nur die Postkarte meiner Freundin aus den USA bekommen und mich gefreut, dass sie dort an mich gedacht hat. Außerdem kommen heute seltsame Messwerte wie Follower:innen und Likes hinzu. Das kann unglücklich machen. Nicht nur Kinder.                                                                                                  Ich sehe aber auch das positives Potential. Junge Menschen nutzen die sozialen Medien, um ihre Haltung zu zeigen, Druck auf die Politik auszuüben und solidarisch miteinander zu sein. Außerdem ist es als Person, die zu einer Minderheit gehört, viel leichter Gleichgesinnte oder Identifikationspersonen zu finden. Vielleicht lebt man als einzige schwarze Person in einem Dorf und lernt über Instagram endlich auch andere schwarze Menschen kennen. Da gibt es sicherlich so einige Möglichkeiten gerade was Diversität und Inklusion angeht.

Seit wann beschäftigst Du Dich mit Nachhaltigkeit und gab es dafür ein konkretes Erlebnis als Auslöser?                                                                                                          Das hat sich nach und nach im Studium eingeschlichen. Eine Freundin und ich haben uns privat u.a. dafür interessiert wie wir Müll vermeiden können. Außerdem habe ich neben einem Redaktionsjob auch noch gebloggt. Ursprünglich über Musik und Kultur. Ich war dann aber immer öfter auf Events wie der Fashion Week und ähnlichen Veranstaltungen eingeladen und kam mir dort oft wie Falschgeld vor. Dann habe ich aus Interesse eine ethische Modemesse besucht und direkt sehr viele tolle Frauen kennengelernt, die sich zum Beispiel für bessere Arbeitsbedingungen von Näher:innen in der Modeindustrie weltweit einsetzen. Darin habe ich direkt einen Mehrwert gesehen, die eigene Reichweite zu nutzen. Und seither ging es irgendwie immer weiter mit Themen der sozialen Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit.

Glaubst Du, man kann sich nur für Nachhaltigkeit, Umweltschutz und fairen Handel stark machen, wenn man finanziell gut aufgestellt ist?                                           Es ist in jedem Fall einfacher bio und fair einzukaufen. Im Allgemeinen verursachen Menschen mit wenig Geld aber auch weniger CO2-Emissionen, da sie weniger Fliegen, seltener SUV fahren und überhaupt weniger Produkte konsumieren. Zudem haben Menschen mit weniger finanziellen Möglichkeiten häufig erstmal andere Themen auf dem Zettel. Zum Beispiel wie sie ihre Familie satt durch den Monat bekommen. Der wertende Blick auf ärmere Menschen ist also nicht nur unangebracht, er ist im Grunde eine Täter-Opfer-Umkehrung. Ich denke Menschen mit einem guten Einkommen und einem dazugehörigen Lebensstil müssen hingegen ihre Pflicht anerkennen für Klimagerechtigkeit zu sorgen und sollten diese auch in Kaufentscheidungen und politischem Handeln ausdrücken.                       Aber auch mit weniger Geld kann ich nachhaltige Entscheidungen treffen. Indem ich auf eine (weitgehend) pflanzliche Ernährung umstelle oder Second Hand Kleidung kaufe. Das ist für eine 25-Jährige Single Frau aber natürlich einfacher als für die 4-köpfige Familie. Privilegien spielen immer eine Rolle.

Versuchst Du mit Deiner Arbeit auch Menschen zu erreichen, die z.B. in „relativer Armut“ leben?                                                                                                              Generell ist es nicht so leicht für mich diese Zielgruppe zu identifizieren, da uns “relative Armut” ja nicht auf die Stirn geschrieben steht. In Deutschland versteckt sich Armut nach außen ja ganz gut. Ich spreche auf meinem Instagramkanal (https://www.instagram.com/isabelle_rogge/) ab und zu über Themen wie den Bildungsaufstieg, habe aber nicht das Gefühl, dass es wahnsinnig viele Menschen betrifft, die mir folgen. Ich würde mich aber freuen künftig wesentlich mehr Menschen zu erreichen, die einen Teil meiner Biografie teilen. Tatsächlich war das "Leeroy will´s wissen"-Video auch das erste Interview in dem ich mich konkret über die eigene Armutserfahrung geäußert habe. Von alleine hätte ich diesen Teil meiner Geschichte vermutlich niemals so zum Thema gemacht, da ich kein Mitleid erzeugen wollte. Die Studie zur Kinderarmut in Deutschland der Bertelsmann Stiftung fand ich aber so unterstützenswert, dass ich zugesagt habe. Und nun merke ich immer wieder, durch Nachrichten, dass meine eigene Biografie Anlass für andere Menschen ist, sich ähnliche Dinge zuzutrauen. Ich würde mich zum Beispiel freuen viel mehr mit Schulen zusammenzuarbeiten. Ich habe auch hier und da schon mal Vorträge zu Klimaschutztagen gehalten. Da hat die relative Armut aber keine Rolle gespielt, obwohl sicher Kinder vor Ort davon betroffen waren.

Vielen Dank, Isabelle, für Deine Zeit und Deine Offenheit!

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